Bericht der Neuen Zürcher Zeitung vom 26. April 2015 

Sinnbild schweizerischer Präzision

Seit Wilhelm Tell hat sich die Armbrust zum Hightech-Gerät entwickelt. Die Zielscheibe ist aber noch immer fast so gross wie ein Apfel

 

Doch will ich raten, ziele gut, dass du Den Apfel treffest auf den ersten Schuss, Denn fehlst du ihn, so ist dein Kopf verloren Friedrich Schiller, «Wilhelm Tell» Der Schuss, wir wissen es, sass. Der Kopf blieb ganz. Tell wurde ein Held. Und die Armbrust? Sie wurde zum Sinnbild schweizerischer Werte. Wer beispielsweise kennt nicht das Armbrustzeichen, das für Wertarbeit «Made in Switzerland» steht?

 

Dabei ist die Geschichte der Armbrust weder besonders schweizerisch noch besonders ruhmreich. Als Waffe taucht sie in Nordfrankreich im 10. Jahrhundert erstmalig auf, und sie gilt als veritables Teufelswerkzeug. Mit den Kreuzzügen verbreitet sie sich bis nach Byzanz, wo sie von einer besorgten Kaisertochter als «barbarischer Bogen» betitelt wird. Das mörderische Potenzial der Armbrust ist so gross, dass sich 1139 in Rom sogar das II. Laterankonzil damit beschäftigt. Sein Urteil: ein (in seiner Interpretation umstrittenes) Verbot. Die Armbrust darf fortan nicht mehr gegen Christen und Katholiken gewendet werden.

 

Das Armbrustverbot des II. Laterankonzils – die gleiche Versammlung beschloss übrigens auch den Zölibat für Priester – zeigte von Anfang an wenig Wirkung, und es kümmert schon lange niemanden mehr. Schon gar nicht in Unterägeri, im (katholischen) Kanton Zug. Denn in den vergangenen Wochen ist der Ort zum eigentlichen Nervenzentrum der Armbrustschützen geworden. Hier fanden dieser Tage nicht nur die Europameisterschaften im Armbrustschiessen statt, am Wochenende haben die Schweizer Armbrustschützen hier auch die Schweizer Meisterschaften und ihr 22. Eidgenössisches gefeiert. Letzteres ist ein Anlass, der nur alle fünf Jahre stattfindet und der nun eine Volksfeststimmung in das gut 8300 Seelen zählende Zuger Dorf gezaubert hat.

 

Rund 1200 Schützen und Schützinnen stehen am Start, wobei «stehen» im Armbrustschiessen nur bedingt das korrekte Wort ist. Denn die meisten Schützen knien. Es gibt Schützen, die schiessen nur kniend; dann gibt es solche, die schiessen kniend und stehend; aber keiner schiesst nur stehend. Denn wer stehend trifft, der weiss auch, wie es kniend geht. Stehend, das ist sozusagen die hohe Schule der Armbrustschützen.

Da stehen sie nun also, die Elite-Schützen der Schweizer Meisterschaften, und nehmen ihr Ziel ins Visier. 90 Minuten und 30 Schuss dauert der Durchgang. Das heisst, 90 Minuten in mehr oder weniger der gleichen Position stehen, laden, zielen, sich konzentrieren, die 7 und mehr Kilogramm schwere Waffe fest im Griff. Dabei ist einiges anders als anno dazumal bei Wilhelm Tell. Es wird zum Beispiel nicht auf Äpfel geschossen, wohl aber auf Zielscheiben kaum grösser als ein schöner Golden Delicious.

 

Schaut man die beschossenen Scheiben an, muss man konstatieren, dass praktisch jeder dieser Schützen nicht nur den Apfel souverän vom Kopf des Tellschen Söhnchens geschossen, sondern auch noch sauber das Kerngehäuse getroffen hätte. Paul Merz vom Armbrustschützen-Verband Ägerital erklärt es denn auch bildlich: «Den Apfel könnte man heute durch eine Kirsche ersetzen, und die Schützen würden den Stein herausschiessen.»

 

Das hat seine plausiblen Gründe. Die heutigen Schützen schiessen auf 30 Meter Distanz, während Tell auf 80 Schritte treffen musste. Vor allem aber ist die Armbrust heute von ganz anderem Kaliber. Ein präzises Hightech-Gerät sei sie, sagt Bruno Winzeler, ein Kleinstunternehmer aus Zürich Höngg und trotzdem einer der ganz Grossen der Armbrust-Herstellung. Winzeler ist selbstverständlich am Eidgenössischen in Unterägeri vor Ort, um seine Produkte im Einsatz zu sehen.

 

Die Armbrust ist heute gefertigt aus modernsten Materialien – wobei der Schaft aus Buchen-Schichtholz besteht – und ausgestattet mit einer beleuchteten Wasserwaage und einem elektronischen Abzug. Die Pfeile sausen mit einer Geschwindigkeit von rund 220 Kilometern pro Stunde durch die Luft. «Das ist ein Tick schneller als ein Aufschlag von Federer und präziser», sagt Winzeler. Das ist freilich als Scherzchen zu verstehen. Denn für den Schweizer Tenniscrack haben hier alle nur ganz grosse Bewunderung.